Joachim Kühn, geboren am 15. März 1944 in Leipzig, ist einer der wenigen deutschen Weltstars des Jazz. Sein Piano-Spiel setzt sich über alle Kategorien hinweg und hat dem zeitgenössischen Jazz neue Wege gewiesen. Der musikalische Weltbürger Kühn sieht sich in der Tradition des Jazz, wie auch verbunden mit der europäischen Konzertmusik, aber bei alledem unmittelbar einer Klangsprache der Gegenwart verpflichtet. Er offenbart Vehemenz und Sensibilität, virtuose Technik und Phantasie, eine unverwechselbare Anschlagskultur und einen untrüglichen Sinn für Dynamik. Im Interplay mit langjährigen musikalischen Partnern, in immer neuen und oft auch ungewöhnlich herausfordernden Spielkonstellationen oder, ganz auf sich gestellt, in seinen Solokonzerten gelingt es Joachim Kühn, Musik zum Ereignis zu gestalten. Piano-Legende Dave Brubeck urteilte einst über ihn: „Das ist einer, der verfügt über alle Fähigkeiten, die meinem Grundverständnis von modernem Piano entsprechen.“
Seit den 60er Jahren hat der Pianist markante Spuren im internationalen Jazz hinterlassen. Als 22-Jähriger kehrte er nach der Teilnahme an einem Wettbewerb für junge Jazzmusiker nicht mehr in die DDR zurück und begründete von da an seine weltweite Karriere. Noch im selben Jahr erschien nach einem Auftritt beim Newport Jazzfestival in den USA, sein erstes Album beim renommierten Label Impulse.
Er spielte seitdem in oft herausfordernden Konstellationen mit Musikern aus aller Welt, mit den verschiedensten musikalischen Hintergründen. An der Seite von Koryphäen des Free Jazz wie Archie Shepp oder Ornette Coleman wirkte er genauso wie in der Fusion-Szene der amerikanischen Westküste in den 70er Jahren, mit Musikern wie Billy Cobham, Eddie Gomez, Michael Brecker oder Joe Henderson. Ein international führendes Piano-Trio bildete er in den 80ern in Paris mit dem Bassisten Jean-François Jenny-Clark und dem Schlagzeuger Daniel Humair.
Bereits zwei Jahre nach der Gründung von ACT stand er 1994 im Mittelpunkt einer All-Star Band, u.a. mit Alfred Mangelsdorff, Klaus Doldinger, Django Bates und der Radiophilharmonie Hannover des NDR. Das dabei entstandene, großformatige Manifest einer europäisch fundierten Jazzmusik, „Europeana“, spiegelt auch Kühns musikalische Einflüsse wieder: Obwohl unmittelbar einer Klangsprache des gegenwärtigen Jazz verpflichtet, fühlt er sich seit jeher auch der europäischen Konzertmusik verbunden.
Jenes genreübergreifende Konzept wird besonders ersichtlich in dem stets für Joachim Kühn bedeutenden Solo-Spiel – gewissermaßen der Königsdisziplin unter Jazzpianisten. Und so finden sich auf dem 2005 bei ACT erschienenen Solo-Album „Allegro Vivace“ neben eigenen Stücken sowohl Kompositionen von Bach und Mozart als auch von Coltrane und Coleman. Die Verbindung von solchen musikalischen Gegensätzen verdeutlicht einmal mehr Joachim Kühns Risikobereitschaft und improvisatorische Fähigkeiten.
Auch im Duo zeigt er seine Virtuosität, immer verbunden mit einem aufmerksamen Ohr für den Mitspieler, um gleichberechtigt mit dem Partner zu interagieren. Sowohl die Zusammenarbeit mit dem aufstrebenden Pianisten Michael Wollny („Piano Works IX: Live at Schloss Elmau“, 2009) als auch mit dem Saxofon-Altmeister Heinz Sauer („If (Blue) Then (Blue)“, 2010) und Archie Shepp („Wo!man“, 2010 erschienen auf dem Label Archieball) wurde von den Kritikern hoch gelobt. Erstere Aufnahme wurde vom französischen Jazzmagazine/ Jazzman zum Album des Jahres gekürt.
Seine Offenheit und sein Entdeckergeist brachten Kühn dazu, ein wohl noch nie in dieser Form zuvor dagewesenes Trio zu gründen. Im Jahr 2003 fand er mit dem Marokkaner Majid Bekkas, der die Lauteninstrumente Guembri und Oud spielt, und dem spanischen Schlagzeuger Ramon Lopez zwei bezüglich seines Improvisationsdranges Gleichgesinnte, die jedoch ihre ganz eigenen kulturellen Hintergründe und musikalischen Erfahrungen einzubringen vermögen. Nach dem ersten Album des Trios, „Kalimba“, im Jahr 2007, folgten „Out Of The Desert“ (2009), welches in einer Session in der nordafrikanischen Wüste mit dort einheimischen Musikern aufgenommen wurde, und 2011 „Chalaba“.
Hinsichtlich dieser Fülle an musikalischen Grenzgängen, internationalen Kollaborationen und seiner für den deutschen Jazz herausragenden Stellung ist es keine Überraschung gewesen, als Joachim Kühn 2011 gemeinsam mit seinem Bruder Rolf mit dem ECHO Jazz für sein außergewöhnliches Lebenswerk geehrt wurde. Ein Jahr später erhielt er den zweiten ECHO Jazz. Die Zusammenarbeit von seinem „Wüstenjazz“-Trio mit der hr-Bigband, „Out of the Desert live at Jazzfest Berlin“, wurde als beste Bigband-Produktion ausgezeichnet.
Auf „Voodoo Sense“, dem fünften Album mit Majid Bekkas und Ramon Lopez, ist Kühns Traditionsbewusstsein hörbar. Schon das fast 20-minütige Eröffnungsstück „Kulu Se Mama“ – gemeinsam eingespielt mit Archie Shepp, einer Gruppe afrikanischer Perkussionisten und Sänger, angeführt von Talking-Drum-Meister Kouassi Bessan Joseph – geht auf das gleichnamige Coltrane-Album von 1965 zurück. Ob archaische Weltmusik, die blues-getränkte, eigens für Shepp geschriebene Saxofon-Ballade „L’eternal Voyage“, pianistische Harmoniestudie wie „Crossing The Mirror“ oder donnerndes Drama wie das abschließende „Firehorse“ – Kühn ist mithilfe seiner Freunde wieder einen Schritt weitergekommen bei seiner Suche nach dem Zauber der einen, einzigen Musik, gewissermaßen dem Voodoo Sense.
Wenn am 15. März 2014 der 70. Geburtstag von Joachim Kühn gefeiert wird, kann der Pianist auf eine große Karriere zurückblicken. Aber sicherlich wird er – ganz im Sinne seines offenen und neugierigen Wesens – schon wieder neue Pläne schmieden.
Joachim Kühn auf ACT:
• „Voodoo Sense“ – mit Majid Bekkas, Ramon Lopez, Archie Shepp u.a., 2013 (ACT 9555-2)
• „Out of the Desert live at Jazzfest Berlin“ – mit der hr-Bigband, 2011 (ACT 9521-2)
• „Chalaba“ – mit Majid Bekkas und Ramon Lopez, 2011 (ACT 9502-2)
• „If (Blue) Then (Blue)“ – Duo mit Heinz Sauer, 2010 (ACT 9493-2)
• „Out of the Desert“ – mit Majid Bekkas und Ramon Lopez, 2009 (ACT 9475-2)
• „Piano Works IX: Live at Schloss Elmau“ – Duo mit Michael Wollny, 2009 (ACT 9758-2)
• „Kalimba“ – mit Majid Bekkas und Ramon Lopez, 2007 (ACT 9456-2)
• „Piano Works I: Allegro Vivace“ – Solo Piano, 2005 (ACT 9750-2)
• Europeana“ – mit der Radio Philharmonie Hannover NDR & Michael Gibbs, Django Bates u.a., 1995/2006 (ACT 9220-2/ACTSACD 9804-2)